Aufbau einer analytischen Meditation
Geshe Thubten Ngawang
Ziel der Meditation ist es, den Geist mit jedem gewünschten Meditationsinhalt über längere Zeit beschäftigen zu können. Es wäre falsch, völlig planlos zu meditieren. Vielleicht denkt man an einem Tag: "Heute meditiere ich einmal über dieses Thema" und geht bald zu einem anderen Thema über, wechselt dann wieder und so fort. Wer auf diese Weise ohne Plan meditiert, wird die Tendenz, den Ablenkungen des Geistes zu folgen, noch verstärken und keine Fortschritte im Hinblick auf das gesteckte Ziel machen. So sagt Dsche Tsongkapa, daß wir darauf achten sollten, schon die Anfänge richtig zu setzen, sonst besteht die Gefahr, sich an die fehlerhafte Übungsform zu gewöhnen, wodurch die gesamte Dharma-Praxis, die sich über das ganze Leben erstreckt, Schaden erleidet.
Tsongkapa sagt, daß wir klare Vorstellungen darüber entwickeln müssen, wie und über welche Themen wir meditieren wollen; der Stufenweg zur Erleuchtung (Lamrim) bietet hierzu die ideale Hilfestellung. Beginnen wir dann die Meditationssitzung, fassen wir den festen Vorsatz, bei dieser Ordnung zu bleiben. Wir sollten uns vornehmen, bei der eigentlichen Übung dem Verständnis zu folgen, das wir uns über die verschiedenen Punkte im Dharma angeeignet haben. Dieses Verständnis sollten wir möglichst beharrlich anwenden und die Faktoren der Vergegenwärtigung und der wachsamen Selbstprüfung benutzen, um die Meditation zu üben und den Geist zu entwickeln.
Jede Meditation setzt sich aus drei Teilen zusammen: Zuerst durchdenkt der Meditierende die verschiedenen Begründungen im Rahmen eines bestimmten Themas; zweitens kommt er zu einer Erkenntnis und trifft innerlich eine Entscheidung; drittens stabilisiert er den Geist in diesem Zustand der gewonnenen Erkenntnis und Entscheidung, was man die Entwicklung der Erfahrung nennt. Auf diese Weise wird sich der Geist schrittweise zum Positiven verändern. Jedes Thema des Stufenwegs zur Erleuchtung sollte auf diese Weise eingeübt werden.
2. Meditation: Die flüchtige Natur der Dinge
Unterthema: Außerhalb der Meditation
Erleuchtete Wesen oder Mystiker unterscheiden sich von gewöhnlichen Menschen vor allem dadurch, dass sie die Welt auf eine Weise auffassen, die im Einklang mit ihrer Existenzweise steht. Auf dem buddhistischen Pfad studieren solche Mystiker, im Buddhismus Yogis genannt, zunächst mit Hilfe der Schriften das eigentliche Wesen der Wirklichkeit und machen auf dieser Grundlage mit Hilfe von konzentrierter Meditation unmittelbare Erfahrungen. Die wesentlichen Inhalte ihrer Erfahrungen sind dabei die Erkenntnis der dynamischen, unbeständigen Natur alles Geschaffenen und die Interdependenz aller Phänomene.
Nicht spirituell geschulte Menschen dagegen leben in Unwissenheit, da sie eine angeborene Tendenz beibehalten, die Dinge als beständig und selbstexistent aufzufassen. Diese gestörten Konzepte bzw. Projektionen des Geistes führen bei ihnen zu Begierde gegenüber attraktiven und Abneigung gegenüber unattraktiven Erscheinungen. Damit sind sie beherrscht von den Geistesgiften wie Unwissenheit, Hass und Gier, die allen Leidenschaften und damit allem Leiden zugrunde liegen.
Als Gegenmittel gegen das Leiden kann nur die Meditation über die Leerheit dienen. Ein großes Hindernis für die Meditation ist die Begierde, das Hängen an Sinnesobjekten. Ein Gegenmittel dazu ist die Kontemplation der Unbeständigkeit. Sie dämpft die Erregung und bringt ein heilsames Maß an Desillusionierung über all die erstrebenswert erscheinenden Dinge, die in ihrer Natur leidhaft sind. Wer über die flüchtige Natur der Erscheinungen meditiert, wird ruhiger und ausgeglichener, was eine wesentliche Voraussetzung für eine stabile Meditationspraxis ist.
Unbeständigkeit erfahren
Wir begeben uns an einen ruhigen Ort, an dem günstigen Falls auch Bilder des Buddha aufgestellt und Opfergaben errichtet sind. Dann setzen wir uns in eine geeignete Meditationshaltung und stärken unsere heilsame Motivation mit Hilfe von Gebeten, die die Entwicklung der Haltung der Zufluchtnahme und des Mitgefühls enthalten. Wir verringern unsere innere Unruhe noch weiter, indem wir einigen Atemzügen bewusst folgen. Wenn unser Geist dadurch freier und aufnahmebereiter geworden ist, schauen wir direkt in unseren Geist hinein. Wir spüren dabei etwas Klares, Nicht-Materielles in uns, das sich mit Objekten beschäftigen kann und in dem sich Gedanken und Gefühle schnell abwechseln. So beobachten wir eine Zeit lang den Fluss unseres Geistes, ohne darüber zu urteilen.
In diesem gesammelten Geisteszustand meditieren wir über die Unbeständigkeit der Dinge. Die eigentliche analytische Meditation umfasst nach der Lamrim-Tradition drei Teile:
1. Wir durchdenken die verschiedenen Begründungen im Rahmen dieses Themas;
2. wir kommen dadurch zu einer Erkenntnis und treffen innerlich eine Entscheidung;
3. wir stabilisieren den Geist in diesem Zustand der gewonnenen Erkenntnis und Entscheidung, was die Entwicklung der Erfahrung genannt wird.
1. Durchdenken der Begründungen: Wir machen uns deutlich, dass alle Dinge unbeständig sind, wie der Buddha immer wieder betont hat. Das bedeutet, dass alles, was aus Ursachen und Bedingungen entstanden ist, veränderlich und nicht dauerhaft ist. Dazu gehören alle geistigen und körperlichen Phänomene und die dazu in Beziehung stehenden Dinge wie Zeit, Menschen etc.
Wir vergegenwärtigen uns zunächst die grobe Unbeständigkeit: Menschen altern und sterben, Häuser zerfallen, die Jahreszeiten wechseln einander ab. Tatsächlich wird alles, was wir Materie oder Geist nennen, sich wandeln und schließlich vergehen. Der Buddha sagte dazu: "Alles was entstanden ist, wird wieder vergehen." Trotz dieses Wissens sind wir aber oft sehr überrascht, wenn uns gut bekannte Personen sterben oder Gegenstände vergehen, weil wir uns ihre Unbeständigkeit nicht stets bewusst halten.
Im nächsten Schritt machen wir uns die subtile Ebene der Unbeständigkeit deutlich, die schwerer wahrzunehmen und mit bloßen Augen nicht zu erkennen ist. Sie beinhaltet, dass die Dinge sich in kürzesten Momenten wandeln. Wir wissen, dass z.B. die scheinbar so stabile Materie aus kleinen Teilen besteht, die sich in äußerst kurzen Momenten verändern. Obwohl wir diese Tatsache intellektuell verstehen, müssen wir erkennen, dass wir im Alltag instinktiv an einem anderen Bild der Dinge festhalten und nach Beständigkeit greifen. Wir fassen instinktiv uns bekannte Dinge und Personen so auf, als wenn sie über mehrere Momente hinweg gleich bleiben würden. Beispielsweise erscheint uns ein altes, uns bekanntes Haus oft so, als würde es an seinem Platz mehr oder weniger unverändert seit Jahrzehnten stehen. Genauso passiert es uns oft, dass wir einen befreundeten Menschen treffen und meinen, die Person wäre in jeder Hinsicht die gleiche wie bei der letzten Begegnung.
Die Person hat zwar eine Kontinuität, aber im Gegensatz zu unserer spontanen Auffassung bleibt nichts in ihrem Körper und Geist von einem Moment auf den nächsten gleich. Die Person wandelt sich von Augenblick zu Augenblick; dies ist die subtile Unbeständigkeit. Erkennen wir diese, erscheinen uns die Dinge mehr wie ein Prozess oder wie ein Fluss. Der Buddha verglich die Dinge mit Wolken und Wasserblasen, um auf ihre flüchtige Natur hinzuweisen. Er sagt im Diamant-Sutra: "So sollte dir die ganze vergängliche Welt erscheinen: wie ein Stern im Morgengrauen, eine Luftblase im Fluss, ein Blitz in einer Sommerwolke, ein flackerndes Licht, ein Schatten und ein Traum."
Wir versuchen in der Meditation, im eigenen Geist das Greifen nach Beständigkeit klar zu identifizieren und setzen dann das Gegenmittel ein: Wir meditieren über verschiedene Dinge, indem wir uns ihre flüchtige Natur verdeutlichen. Wir schenken insbesondere den Dingen Aufmerksamkeit, an denen wir sehr hängen und machen uns jeweils ihre unbeständige, zeitweilige Natur deutlich. Wir reflektieren in diesem Zusammenhang auch über unsere eigene Vergänglichkeit und darüber, dass wir von Moment zu Moment vergehen. Wir können dabei auch über den Wechsel der Jahreszeiten und andere Erscheinungen in der Natur meditieren, die die Unbeständigkeit sinnlich erfahren lassen. Wir sollten den Blick aber auch nach innen auf geistige Zustände und ihre Veränderungen richten, die sich ebenfalls in jedem Moment wandeln.
2. Entscheidung: Wenn wir durch diese Betrachtungen anhand verschiedener Beispiele eine klare Erkenntnis der Unbeständigkeit erlangt haben, kommen wir zu der inneren Entscheidung, dass tatsächlich alle Dinge von unbeständiger, flüchtiger Natur sind.
3. Stabilisierung der Erfahrung: Im Weiteren versuchen wir, konzentriert diese Wahrnehmungsweise aufrechtzuerhalten. Dabei werden wir spüren, dass der Geist flexibler wird und Störungen abnehmen, insbesondere die Begierde, während die Freude wächst. Unser Kontakt mit der Wirklichkeit des gegenwärtigen Momentes wird frischer und intensiver werden. Wir fühlen uns auch inspirierter, uns mit den wesentlichen Dingen zu beschäftigen und uns nicht von zeitweiligen Vergnügungen vom Dharma ablenken zu lassen. Langfristig kann diese Meditation zu einer wesentlichen Bedingung für die Erleuchtung werden.
Wenn wir spüren, dass wir erschöpft sind, beenden wir langsam die Meditation, richten uns noch einmal einige Züge lang auf den Atem und dann auf den gesamten Körper und lassen die Meditation ausschwingen. Zum Abschluss widmen wir das Heilsame aus dieser Meditation dem Wohl der Wesen und nehmen uns vor, auch in Zukunft weiter über dieses Thema zu meditieren. Dann kehren wir inspiriert zu unseren alltäglichen Aktivitäten zurück.
Außerhalb der Meditation versuchen wir, heilsam zu handeln. Wir bemühen uns, nicht zerstreut zu sein, andere nicht zu verletzen und uns auf der Basis des Lernens mit dem Dharma zu beschäftigen. Insbesondere können wir durch die Praxis der Achtsamkeit alles, was uns erscheint, sehr aufmerksam wahrnehmen und uns der augenblicklichen Natur all dessen, was uns umgibt, bewusst sein. Wenn wir im Alltag bemerken, dass wir nach Beständigkeit greifen und Leidenschaften aufkommen, ist der Gedanke an die flüchtige Natur der Dinge sehr effektiv, um wieder Frieden zu finden. Die wiederholte Vergegenwärtigung versetzt uns in die Lage, uns schrittweise dem Zustand eines Erwachten anzunähern, der den unachtsamen, schlafähnlichen Zustand des Greifens nach Beständigkeit und der wahren Existenz in seinem Geist beendet hat.
3. Meditationsversuche im Tantra Maria-Viktoria Derenbach (Gelongma Sönam Chökyi)
„... am Morgen werdet ihr durch den Gesang der Göttinnen geweckt. Sie singen euch das Lied des Abhängigen Entstehens.“ Diese Worte des alten, ehrwürdigen Tantra- Meisters Kensur Geshe Ugyen Rinpoche klingen mir noch heute in den Ohren. So beginnt also ein Tag im Dharma, ein Tag im Leben eines echten Tantra-Praktizierenden. Auch vom Ende dieses Tages hat Kensur Rinpoche in seinen Unterweisungen zur Vajrayogïni- Praxis gesprochen: „Auf einem Lotuskissen, das sich auf einem Löwenthron befindet, legt ihr euch auf die rechte Seite, den Kopf in den Schoß eures Guru, der auf dem nördlichen Lotusblatt ruht. Ihr selbst habt euch als Gottheit visualisiert.“ So endet der Tag. Aber wie sieht es dazwischen aus? Im besten Fall visualisiert man sich auch während des Tages bei all den Aufgaben, die man zu erledigen hat, als Gottheit, führt die reinen Handlungen einer Gottheit aus und erfreut sich an den makellosen Genussobjekten in göttlicher Umgebung. Wozu macht man diese Übung? Weil man sich für etwas Besonderes hält, weil man denkt, besser zu sein als andere, die nur „einfache Wesen“ sind? Falsch! Da die Tantra-Praxis sozusagen die Krönung des Übungswegs eines Bodhisattva ist, hat man sich schon viele Zeitalter darin geübt, die anderen Lebewesen höher zu schätzen als sich selbst. Wenn man reine Wahrnehmungen übt, die der Kern der tantrischen Meditation sind, bezieht man auch die anderen mit ein, um die es eigentlich geht.
Tatsache ist, dass die Lebewesen, in die pechschwarze Finsternis der Unwissenheit gehüllt, auf dem Ozean des Leidens umhertreiben. Wir praktizieren Tantra, weil wir das Leiden der anderen nicht mehr ertragen können. Wir ertragen dieses Leiden nicht mehr, weil wir unser eigenes Leiden nicht mehr ertragen können. Und dieses Leiden ist uns so präsent, weil wir lange über die Leiden im Kreislauf der Wiedergeburten nachgedacht haben. Wir üben uns im Gottheiten-Yoga, um diesen fühlenden Wesen so schnell wie möglich, spontan und mühelos helfen zu können wie der Buddha. Mit den Methoden des Tantra kann man, sofern man die Voraussetzungen hat, besonders schnell die Erleuchtung erlangen.
Die Visualisation als Gottheit ist eine wesentliche Ursache für den zukünftigen Buddha-Zustand, die perfekte Ausgangs-position, um den anderen effektiv und ohne Irrtum helfen zu können. Wir sollten zuvor eine Initiation und Erklärungen von einem qualifizierten Meister genommen haben, denn sonst werden die Übungen bloße Vorstellungen bleiben, so wie wir uns unsere Wohnungseinrichtung vorstellen, ein leckeres Essen, wenn wir Hunger haben, oder eine Person, mit der wir gern zusammen sein möchten. All dies können wir in schillerndsten Farben visualisieren, wenn das Verlangen nur groß genug ist. Auf der Seite der reinen Objekte fällt es uns jedoch schwer, und wir brauchen die geistige Führung durch unseren Lehrer, um den Geist umzuformen.
Wir haben gewiss das Potenzial, uns zu entwickeln und Stabilität in der Visualisierung zu erlangen. Wir haben zum Beispiel die natürliche Veranlagung, Liebe und Mitgefühl für uns sehr nahe stehende Personen zu empfinden und können diese positive Geisteshaltung auf alle Lebewesen ausdehnen. Genau so steckt in uns die Fähigkeit, uns Gottheiten vorzustellen, ja sogar über mehrere Stunden ohne Ablenkung ein vollständiges Mandala in Senfkorngröße im Bewusstsein zu halten. Natürlich wird es uns schwer fallen, solche fortgeschrittenen Meditationen neben dem Berufsalltag einzuüben; ein Leben in Abgeschiedenheit wäre nötig, das ganz der Meditation gewidmet ist, vielleicht eine Drei- Jahres-Klausur mit den Übungen der Reinigung und Verdienstansammlung als Vorbereitung.
Dies heißt aber nicht, dass wir uns im Moment überhaupt nicht dem Tantra annähern könnten. Das Schlafen, das Aufwachen, das Essen, Trinken und Ankleiden können wir benutzen, um in Kontakt mit der Gottheit zu bleiben, von der wir die Initiation erhalten haben. Dinge, die wir täglich tun, können wir mit ein bisschen Achtsamkeit und Enthusiasmus transformieren.
Wir beginnen stets damit, uns das, was wir über die Leerheit gelernt haben, ins Gedächtnis zu rufen. Alle Phänomene sind abhängig von den verschiedenen Ursachen, Teilen und von Benennungen; aus diesem Grund sind sie leer von einem Eigenwesen, von wahrhafter Existenz. Wir konzentrieren uns auf diese Einsicht und stellen uns vor, dass unsere Erkennt-nis die Form der Gottheit annimmt. Die Gottheit entsteht aus der Leerheit. Mit der Motivation, selbst ein Buddha zu werden, um die fühlenden Wesen vom Leiden zu befreien, visualisieren wir uns in der Gestalt des Buddhas. Dies am Morgen gleich nach dem Aufwachen zu tun, hat schon eine sehr heilsame Kraft. Wenn wir uns tagsüber hin und wieder daran erinnern, umso besser.
Wir fassen den Entschluss, an diesem Tag zum Wohl der Wesen aktiv zu sein. Es fällt mir nicht schwer, morgens, wenn der Geist klar und ausgeruht ist, an die Gottheit zu denken. Auch beim Waschen und Ankleiden lässt sich die Vorstellung noch recht gut aufrechterhalten. Und wenn ich den ersten Schluck eines Getränks zu mir nehme, versuche ich ihn in dem Bewusstsein zu genießen, dass der Kaffee, ich selbst und der Vorgang des Trinkens leer von wahrhafter Existenz sind.
Spätestens dann jedoch bricht die Welt mit ihren gewöhnlichen, unreinen Erscheinungen über mich herein, und ich beurteile sie auch so. Ich denke noch: „Heute muss ich dieses und jenes erledigen. Ich habe diesen Termin und darf jenes nicht vergessen....“ So vergeht der Tag wie im Fluge, und nur wenige Augenblicke kann ich das Gewahrsein der Gottheit aufrechterhalten. Plötzlich ist Abend. Erst wenn Ruhe einkehrt, schieben sich langsam wieder die Erinnerungen an die Gottheit in mein Bewusstsein.
Glücklicherweise gibt es noch die täglichen Gebete und Meditationen, die mich wieder zurückbringen. Die Zeit, in der ich das Sadhāna der Gottheit rezitiere und meditiere, ist eine besonders gute Gelegenheit zu üben. Der Dalai Lama sagte einmal, dass es uns vielleicht schwer fällt, bei unseren täglichen Arbeiten an die Gottheit zu denken. Während der täglichen Rezitation jedoch sollten wir versuchen, möglichst ohne abzuschweifen kontinuierlich an die Gottheit zu denken.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass meine Visualisierungen, insbesondere im Rahmen der täglichen Praxis, besser sind, je reiner ich den Tag verbracht habe und je weniger ich meinen Begierden nach Essen, Trinken, angenehmen Gesprächen und Situationen nachgegeben habe. Das Gefühl, die Buddhas sind da und in mir, ist umso größer, je stärker mein Verständnis und Mitgefühl für meine Mitmenschen an dem Tag waren. Führe ich Übungen zur Bereinigung von schlechtem Karma durch, gelingt die tantrische Meditation spürbar besser.
Nach Beendigung der Gebete lege ich mich auf mein Bett, das kein gewöhnliches Nachtlager ist, sondern ein von acht Löwen getragener Thron. Auf dem Thron befindet sich ein Lotus und darauf eine warme Sonnenscheibe, sofern man tief schlafen möchte, oder eine kühle Mondscheibe, wenn man klar und leicht ruhen möchte. Die acht Löwen symbolisieren acht Bodhisattva-Kräfte, der Lotus steht für die Entsagung, Sonne und Mond für den Erleuchtungsgeist und die Erkenntnis der Leerheit. Es ist gut, daran zu denken, wenn man sich niedergelegt hat. Wir stellen uns vor, dass wir selbst die Gottheit sind. Der Kopf liegt im Schoß des Lamas, der von einer Natur mit dem Buddha und meinem eigenen Geist ist.
Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass ich eines Tages die Lieder des Abhängigen Entstehens hören und die reine Umgebung eines Buddhas sehen werde. Vielleicht werde ich nach langer, langer Zeit auch das erfahren, was der Dalai Lama berichtet: „Einmal führte ich im Haupttempel in Dharamsala das Ritual durch, mich selbst als Guhyasamāja, eine Gottheit des Höchsten Yoga-Tantra, vorzustellen. Mein Geist verweilte ununterbrochen auf der Rezitation des Ritualtextes, und als die Worte „ich selbst“ kamen, habe ich mein gewöhnliches Selbst in Bezug auf meine Verbindung von Geist und Körper vollständig vergessen. Stattdessen hatte ich ein sehr deutliches Gespür eines „Ich“ in Bezug auf die neue, reine Verbindung von Geist und Körper von Guhyasamāja, den ich mir vorstellte. Da diese Art der Selbst-Identifikation das Herz des tantrischen Yoga ist, hat mir diese Erfahrung bestätigt, dass ich, mit genügend Zeit, zweifellos die außergewöhnlichen, tiefgründigen Zustände des Geistes, die in den Schriften beschrieben werden, erreichen könnte.“ (Dalai Lama: Der Weg zum Glück. Sinn im Leben finden. Herder Spektrum 2002, S. 132)
3.1.1 Konzentration: vollkommene Sammlung im gegenwärtigen Moment
von Birgit Stratmann
Von den zahlreichen Meditationsformen ist für Menschen westlicher Konsumgesellschaften die konzentrative vielleicht am schwierigsten. Von Kindheit an prasseln unzählige Eindrücke und Reize auf uns nieder und dringen in das Bewusstsein ein: Fernsehen, Radio, Internet, Werbung allerorten, Zeitschriften, Gespräche, Telefon etc. - Bewusstsein im Belagerungszustand. Gedanken reihen sich aneinander wie auf einer Endlos-Kassette und beschäftigen den Geist manchmal bis tief in die Nacht hinein. Stille ist selten und kann sogar als unheimlich empfunden werden, denn sie macht den inneren Lärm auf unangenehme Weise hörbar. In dieser Situation ist es gewiss nicht leicht, sich für eine Zeit lang auf ein einziges Objekt zu beschränken, wie in der konzentrativen Meditation gefordert.
Die Übung der Konzentration oder "Geistigen Ruhe" besteht darin, den Geist auf ein einziges Meditationsobjekt zu richten und ihn immer wieder zu diesem zurückzuführen, wenn er abschweift. Gedanken, die nichts mit dem Objekt zu tun haben, werden unterbunden. Insofern steht diese Übung genau im Gegensatz dazu, wie wir uns normalerweise verhalten: Im gewöhnlichen Leben lassen wir den Gedanken freien Lauf, suchen begierig nach Ablenkungen und denken assoziativ. Was immer uns einfällt, wird verknüpft mit einem Netz weiterer Vorstellungen und Ideen, aus denen wir wieder neue Gedankenkonstrukte spinnen.
Die Kunst der Konzentration besteht darin, all diese Gedanken loszulassen und den Geist zu fokussieren. Meines Erachtens geht es nicht in erster Linie darum, das Meditationsobjekt krampfhaft festzuhalten, bis Körper und Geist komplett verspannt sind, sondern alles loszulassen, was vom Objekt ablenkt und eigentlich auch überflüssig ist. Der Begriff "Geistige Ruhe" deutet darauf hin, dass es um dieses Loslassen, die innere Stille geht und nicht um eine brachiale Methode, den umherwandernden Geist in die Knie zu zwingen.
Geshe Thubten Ngawang wies einmal darauf hin, dass man nicht mit Gewalt meditieren und das Nervenkostüm überfordern solle. Im Westen erhofften die Übenden oft zu schnell Erfolge und versuchten, Meditation zu erzwingen. Willenskraft und Anstrengung allein reichten jedoch nicht aus, so Geshe Thubten Ngawang. Es müssten viele heilsame Ursachen und Umstände zusammenkommen, damit das Pflänzchen Meditation gedeiht. Man braucht einen Pool von Verdiensten und muss sich reinigen von negativen Anlagen, was u.a. durch die Sechs Vorbereitungen für die Meditation, das Darbringen von Opfergaben, die Mantra-Rezitation etc. geschieht. Außerhalb der Meditationszeiten sollte man sich so verhalten, dass die Konzentration gefördert wird, zum Beispiel durch die Übung der Vier Vergegenwärtigungen.
Die konzentrative Meditation wird nicht nur im Buddhismus geübt, sondern auch in anderen Religionen, Was die Übung zu einer buddhistischen werden lässt, ist die Motivation. Ist die Übung eingebunden in die Zufluchtnahme und fasst der Meditierende zu Beginn den Entschluss, die Befreiung aus dem Kreislauf des Leidens oder die Erleuchtung zum Wohle anderer zu erreichen, wird die Meditation zu einer buddhistischen.
Aller Anfang ist schwer
Traditionell werden neun Stufen zur Geistigen Ruhe (Shamatha) erklärt; die folgenden Ausführungen beruhen auf Unterweisungen von tibetischen Lehrern wie Geshe Thubten Ngawang und Kensur Geshe Ugyen Rinpoche.
1. Innenrichten des Geistes: Am Anfang der Übung zieht man den Geist von äußeren Objekten ab und lenkt ihn auf das Objekt der Meditation. Man vermag dieses jedoch nur kurz festzuhalten. Der Geist ist wie ein Ball, der kurz auf den Boden (sprich: das Objekt) tickt. Das Objekt kann man frei wählen, je nach Neigung; denkbar ist zum Beispiel ein Buchstabe, eine Silbe oder eine andere Form. Für Buddhisten eignet sich am besten ein Buddha-Bild oder eine Buddha-Statue, weil dadurch viele heilsame Nebeneffekte erzielt werden.
Man macht sich vor der Meditation gut mit diesem Objekt vertraut, schaut die Darstellung an und prägt sich die Gestalt gut ein. Dann führt man die Sechs Vorbereitungen für die Meditation durch und setzt sich in eine stabile Meditationshaltung. Man fasst dann den festen Entschluss, den Geist punktförmig auf das Objekt zu richten. Aus dem Entschluss entsteht Kraft: Ich will mich nicht mit anderen Dingen befassen, sondern nur mit dem Meditationsobjekt.
Die eigentliche Übung besteht darin, den Buddha vor sich im Raum zu visualisieren - und zwar in der Größe eines Daumennagels bis zu einer Elle (nicht zu groß, sonst unterstützt man die Zerstreutheit des Geistes). Die Gestalt kann man sich lichthaft und transparent vorstellen, nicht wie eine Statue aus fester Materie. Sie erscheint ähnlich wie ein Regenbogen. Das Objekt darf sich nicht bewegen, der Geist ist schon bewegt genug!
Die Hauptaufgabe heißt am Anfang: Das Objekt finden und "sich zufrieden geben" (Tsongkapa), d.h. die Vergegenwärtigung muss noch nicht klar und perfekt sein. Wenn man sich in dieser Phase nicht mit den Umrissen begnügt, wird sich keine beständige Konzentration einstellen. Im Gegenteil: Sie baut sich gar nicht erst auf, wenn man schon am Anfang Details visualisieren möchte. Eine ungefähre Vorstellung reicht auf der ersten Stufe völlig aus: Der Buddha sitzt in Meditationshaltung, trägt Roben und ist von goldener Körperfarbe.
Während der Meditation sind folgende Aufgaben zu bewältigen: Erstens muss der Geist beim Objekt bleiben und darf nicht abwandern; dadurch wird Erregung vermieden. Zweitens soll die Wahrnehmung intensiv sein, das heißt, das Objekt muss fest und in einer gewissen Intensität erfasst werden; dadurch wirkt man der Dumpfheit entgegen. Gerade am Anfang sind diese beiden Kräfte, Stabilität (festes Erfassen des Objekts) und eine gewisse Klarheit (statt Trübheit, Undeutlichkeit), entscheidend. Erst später vergegenwärtigt man sich die Einzelheiten des Objekts: den Lotosthron, den unteren und oberen Teil des Körpers, einzelne Glieder, das Gesicht etc.
Das "Innenrichten" ist schwieriger, als es klingt, denn der Geist wandert ständig vom Objekt ab. Er ist seltener beim Objekt als mit anderen Dingen befasst; der Ball tickt auf den Boden und befindet sich dann längere Zeit in der Luft. Von Stetigkeit kann auf dieser Stufe nicht die Rede sein, der Geist hat noch keine Kontinuität erlangt. Manchmal erscheint es den Übenden, als würden ihre Gedanken in der Meditation überhand nehmen. Aber der Schein trügt: Die Ablenkungen sind wie immer, man bemerkt sie lediglich intensiver.
Steter Tropfen höhlt den Stein
2. Stetige Ausrichtung: Auf der zweiten Stufe richtet man den Geist kontinuierlicher, etwa einige Minuten, auf das Objekt. Der Geist verweilt länger beim Objekt als auf der ersten Stufe, aber die Phasen der Ablenkung sind immer noch länger als die Phasen der Konzentration. Die zweite Stufe ist erreicht, wenn man so lange auf dem Objekt bleiben kann, wie es dauert, um einen Rosenkranz lang "Om mani padme hum" zu rezitieren, das Mantra von Avalokiteshvara. Die erste und zweite Stufe sind relativ leicht zu erreichen.
Das wichtigste Mittel in der Meditation ist die Vergegenwärtigung, das heißt das stetige Erinnern des Meditationsobjekts. Diese Kraft bewahrt den Geist davor, zu Sinnesobjekten oder Gedanken abzuwandern. Die Vergegenwärtigung lenkt ihn immer wieder zum Objekt zurück. Im Fall von Geräuschen, Juckreiz am Körper oder anderen Sinneseindrücken wäre es falsch, diesen nachzugehen und sich dadurch stören zu lassen. Das gleiche gilt für Gedanken, selbst wenn sie heilsamer Natur sind. Wenn man Konzentration schult, ist es nicht angemessen, sich beispielsweise mit den Qualitäten des Buddha - seinem Mitgefühl, seiner Weisheit - zu beschäftigen; solche Gedanken sind in dem Moment Ablenkungen.
Damit Vergegenwärtigung überhaupt aufrecht erhalten werden kann, braucht man eine zweite wichtige Kraft: die wachsame Selbstprüfung. Sie hat die Funktion, das körperliche, sprachliche und geistige Verhalten in allen Situationen zu überprüfen und ist eine Art wachsames Untersuchen des eigenen Geistes. Sie wird mit einem Späher verglichen, der den Geist dahingehend überprüft, ob Fehler wie Erregung oder Dumpfheit auftauchen. Bei der Anwendung der wachsamen Selbstprüfung darf man das Meditationsobjekt nicht verlieren.
Ist die Selbstprüfung zu schwach, werden Hindernisse in der Meditation nicht bemerkt und der Geist macht, was er will. Hat der Übende durch Selbstprüfung erkannt, dass Fehler in seinem Geist vorhanden sind, muss er die Vergegenwärtigung stärken und damit die Konzentration auf das Objekt erhöhen. Die wachsame Selbstprüfung ist von Beginn an wichtig; sie wird aber vor allem auf der 5. und 6. Stufe unabdingbar, wenn es darum geht, subtilere Hindernisse zu überwinden.
3. Wiederholte Ausrichtung (tibetisch "Flicken"): Auf der dritten Stufe ist die Konzentration schon besser: Die Ablenkungen währen nur kurz, der Geist ist als Resultat der stetigen Übung sofort wieder beim Objekt. Der Übende bemerkt sofort, wenn der Geist abschweift, und richtet ihn schnell zurück. Er hat das Gefühl, dass die Gedanken etwas zur Ruhe kommen, im Gegensatz zu den ersten beiden Stufen, wo die Gedanken mehr zu werden scheinen. Die Meditationssitzung dauert vielleicht fünf bis zehn Minuten.
Auf dieser Ebene fällt der Meditierende zwischen den Extremen, Sinken und Erregung, hin und her. Wie Kensur Geshe Ugyen einmal sagte: Die Übung besteht darin, die Mitte zu finden - ähnlich wie bei einem Paket, das man zuschnürt; man darf das Band weder zu locker noch zu eng schnüren.
Grobes Sinken ist, als ob der Geist in Dunkelheit versinkt, das Objekt erscheint nicht klar. Auch wenn der Geist beim Objekt verweilt, umgibt ihn eine Schwere und Dunkelheit. Feines Sinken, das auf den höheren Stufen zum großen Hindernis wird, tritt auf, wenn Stetigkeit und Klarheit schon erreicht sind; es mangelt aber an Intensität und Schärfe beim Erfassen des Objekts. Erregung hingegen macht den Geist unruhig und undiszipliniert. Grobe Erregung führt zum Verlust des Objekts; bei der feinen Erregung bleibt der Geist zwar beim Objekt, aber ein Teil des Geistes wandert ab.
Übung macht den Meister
4. Intensive Ausrichtung: Auf Stufe vier hat der Übende eine stark verbesserte Konzentration über längere Zeit, und es gibt keine groben Ablenkungen mehr. Der Geist wird stabiler und ist während der Meditation nie mehr ganz vom Objekt getrennt, d.h. er verliert das Objekt nie völlig. Die Klarheit nimmt zu. Das Anwachsen von Stabilität und Klarheit geht auf die kontinuierliche Anwendung der Vergegenwärtigung zurück. Sinken und Erregung treten in feineren Formen auf, aber das Bild des Meditationsobjekts bleibt im Hintergrund bestehen.
Bis zur vierten Stufe ist der Meditierende hauptsächlich damit beschäftigt, das Objekt über längere Zeit zu halten. Die nun folgende 5. und 6. Stufe sind am schwierigsten zu meistern, weil hier mit feinen Formen von Sinken und Erregung die größten Hindernisse auftreten. Die feine Erregung zeigt sich in Form störender Gedanken unter der Oberfläche; sie führt nicht zum Verlust des Objekts. Das grobe Sinken macht den Geist unklar, feines Sinken verhindert Intensität und Schärfe des Geistes. Der Dalai Lama sagte einmal, es sei schwierig, diese Hindernisse theoretisch zu beschreiben; man müsse in der Erfahrung versuchen, sie ausfindig zu machen.
5. Zähmung: Auf der fünften Stufe kümmert sich der Meditierende vor allem um das Sinken des Geistes, also eine gewisse Unklarheit in der Erscheinung des Objekts. Generell wechseln sich Sinken und Erregung oftmals ab: Neigt der Geist dazu abzuschweifen, erhöht man die Kraft der Vergegenwärtigung und bringt mehr Anstrengung auf, um den Geist an das Objekt zu binden und ihn zu dämpfen. Im Verlauf dieser Bemühungen kann es geschehen, dass der Geist ermüdet und unklar wird. Sinken kann als Folge der Anwendung von Methoden gegen die Erregung auftreten. Der Geist ist dann zu stark nach innen gewandt und verliert dadurch an Klarheit. Bekämpft man wiederum das Sinken, indem man den müden Geist aufhellt und mehr Eifer an den Tag legt, erhöht sich die Klarheit des Geistes wieder, und es kann geschehen, dass die feine Erregung erneut auf den Plan tritt.
Die Anweisung gegen das Sinken auf der fünften Ebene lautet, dass man mehr Tatkraft aufbringen soll, zum Beispiel indem man sich während der Sitzung kurz die Vorzüge der Konzentration bewusst macht, ohne jedoch ganz vom Objekt abzuwandern. (Die Vorzüge muss man natürlich parat haben und an diesem Punkt lediglich kurz abrufen.) Als weitere Mittel gegen Sinken wird genannt, dass man sich etwas Helles, Strahlendes oder Kühles, Erfrischendes vorstellt, etwa das Sonnenlicht oder einen Berg mit weiter Sicht, auf dem ein frischer Wind weht. Wenn das nicht fruchtet, kann man sich vom Meditationssitz erheben, um sich etwas zu bewegen oder nach draußen gehen und den Blick in den Himmel richten.
Auf der fünften Stufe ist der Geist eng mit dem Objekt verknüpft. Man bringt eine klare und intensive Visualisierung des Objekts hervor. Diese und die folgende Stufe wird vor allem durch die Kraft der wachsamen Selbstprüfung erlangt. Der Meditierende hat eine Beherrschung seines Geistes erreicht, die allerdings noch mit Anstrengung verbunden ist.
6. Befriedung: Auf der sechsten Stufe wirkt der Übende vor allem der Erregung in Form subtiler störender Gedanken entgegen. Die Bekämpfung des Sinkens auf der vorangegangenen Stufe führt zu feiner Erregung. Mit wachsamer Selbstprüfung wird dieses Hindernis erkannt. Dann macht sich der Meditierende kurz die Nachteile der Erregung bewusst und richtet den Geist fest auf das Meditationsobjekt aus; damit wird die Verbindung zum Objekt gestärkt. Man muss an diesem Punkt die Kraft der Wachsamkeit sehr intensiv anwenden.
Feines Sinken wird beendet, während man noch seinen Geist daraufhin prüft. Mit der sechsten Stufe wird die mangelnde Freude bei der Meditation überwunden, da der Geist von Ablenkungen weitgehend frei ist. Sinken und Erregung sind nur noch latent vorhanden, Selbstprüfung und Vergegenwärtigung sind sehr stark. Der Übende geht zum siebten Stadium über, wenn das Aufkommen feiner Erregung weitgehend unterbunden ist.
Entspanntes Verweilen
7. Vollständige Befriedung: Die Extreme von Sinken und Erregung, auch in subtilen Arten, die den Geist aus dem Gleichgewicht bringen, tauchen nun kaum mehr auf. Ein Kampf wie auf den vorigen zwei Stufen ist nicht mehr notwendig. Allerdings muss der Meditierende auf der Hut sein und darauf achten, dass diese Fehler sich nicht des Geistes bemächtigen. Er ist so geübt, dass er auch kleinste Fehler schnell abwenden kann; sein Geist wird nicht mehr ernsthaft geschädigt.
Auf der Oberfläche des Geistes ist weniger Anstrengung nötig, weil der Geist in seiner Tiefe gesammelt ist und im Kern die feste Verbindung zum Objekt besteht. Der Geist verweilt in einem natürlichen Gleichgewicht. Die Meditation fällt leichter und wird entspannt fortgesetzt. Die Gefahr, das Objekt oder die Klarheit zu verlieren, besteht nicht mehr. Der Übende erlangt eine Freiheit von Ablenkungen. Er durchschaut alles, was der Meditation schaden könnte, und unterlässt es - auch außerhalb der Sitzungen, z.B. sinnlose Rede.
8. Punktförmige Ausrichtung: Auf der achten Stufe gibt es keine subtilen Spuren mehr von Sinken und Erregung, aber noch ist zu Beginn der Sitzung Anstrengung notwendig, um Konzentration beliebig lange beizubehalten. Im Verlaufe der Meditation jedoch ist die Gewöhnung so stark, dass keine Anstrengung mehr aufgebracht werden muss. Auf der neunten Ebene,
9. Meditatives Gleichgewicht, kann der Übende den Geist mühelos, ohne Anstrengung, auf das Objekt richten, solange er möchte. Eine tiefe Konzentration, verbunden mit Klarheit und Stabilität des Geistes ohne Anstrengung ist erreicht. Damit erlangt er die punktförmige Ausrichtung des Geistes im so genannten Sinnlichen Bereich, jenem Bereich im Daseinskreislauf, in dem auch die Menschen und Tiere leben. Es ist die höchste Stufe der Konzentration, die mit einem Geist dieses Bereichs erlangt werden kann.
Das "Glück der Beweglichkeit" (Shamatha oder Geistige Ruhe) ist auf dieser Stufe allerdings noch nicht verwirklicht. Es entsteht erst, wenn man die Meditation fortsetzt, d.h. den Geist in diesem Gleichgewicht verweilen lässt. Bei weiterer Übung über die neunte Ebene hinaus stellt sich eine außergewöhnliche Freude ein, ein Gefühl des Glücks und der Leichtigkeit - sowohl körperlich als auch geistig. Shamatha, Geistige Ruhe, ist die Fähigkeit, den Geist mühelos auf Heilsames auszurichten, solange man es wünscht, verbunden mit dem Erleben dieses Glücksgefühls.
Achtsamkeit: das Tor zur Konzentration
Ein sehr förderlicher Umstand für die Konzentration ist das achtsame Verweilen im gegenwärtigen Augenblick. Wir wissen, was wir gerade denken, sagen, tun. Wir wissen, welche Gefühle da sind, welche Geistesfaktoren gerade aktiv sind. Wir lassen uns nicht in das hineinziehen, was dem Geist spontan in den Sinn kommt. Wir wandern nicht ab in Vergangenheit oder Zukunft; wir schwelgen nicht in Erinnerungen und schmieden keine Pläne für morgen. Wenn man im gegenwärtigen Moment lebt, entstehen Konzentration und geistige Kraft von allein. Ist der Geist durch Achtsamkeit gesammelt, empfinden wir uns emotional im Gleichgewicht, stabil und fest, was die ideale Voraussetzung für die konzentrative Meditation ist.
Konzentration ist die vollkommene Sammlung im gegenwärtigen Augenblick, gerichtet auf ein einziges Objekt. Wir kommen zum Wesentlichen und verzichten auf alles, was nicht notwendig ist. Damit befreien wir uns von den Verirrungen, starken Emotionen, inneren Dialogen und entfesselten Gedanken. Dies muss nicht durch Kampf geschehen, sondern kann wirksamer sein auf der Basis eines zufriedenen, heiteren Geistes, der einfach im gegenwärtigen Moment verweilt und glücklich ist. So kann die konzentrative Meditation eine wahre Erholung für den erschöpften Geist sein, der sich mit nichts anderem zu beschäftigen hat als mit einem einzigen Objekt. Dadurch wird das Leben im Grunde sehr einfach, sofern die Muße da ist, eine Zeit lang ungestört zu meditieren.
Für die unter uns, die viele Pläne haben, die Anforderungen von außen zu erfüllen und Arbeiten zu erledigen haben, sieht es natürlich anders aus. Es könnte passieren, dass sie in der Meditation quasi in die Schlacht ziehen, um die vielen Gedanken zu bändigen, und kaum ist die Sitzung beendet, warten neue Aufgaben auf sie. In den Schriften wird daher betont, dass Muße und Genügsamkeit wichtige Voraussetzungen für das Gelingen der konzentrativen Meditation sind. Wer das Glück hat, sich eine Zeit lang - seien es einige Tage, Wochen oder sogar Monate - nur der Meditation widmen zu können, ohne sich um etwa anderes kümmern zu müssen, hat es leichter, die innere Ruhe und Balance für die konzentrative Meditation zu finden.