Was nach der Initiation zu tun ist
Geshe Thubten Ngawang
Während der Unterweisungen des Dalai Lama in Schneverdingen nahmen viele Teilnehmer im Rahmen der Initiation in Avalokiteshvara, den Buddha des Mitgefühls, das Bodhisattva- Gelübde. Die Grundlage dieses Gelübdes ist das Bemühen um den Erleuchtungsgeist (Bodhicitta). Diese Geisteshaltung beinhaltet den zweifachen Wunsch: den Wunsch danach, das Leiden der Wesen zu beseitigen, und das Streben nach Buddhaschaft, denn nur ein Buddha besitzt optimale Voraussetzungen, um den Lebewesen wirklich zu helfen. Um den Erleuchtungsgeist hervorzubringen, machen wir uns zuerst zum Beispiel im Rahmen der Lamrim-Kontemplationen die eigenen Leiden bewußt, die wir im Daseinseins-kreislauf erleben. Diese Erkenntnis wird dann auf die anderen übertragen, die sich in der gleichen Situtation befinden wie wir selbst.
Überlegen wir uns, daß wir den anderen viel zu verdanken haben und daß sie aufgrund ihrer Anzahl wichtiger sind als die eigene Person, entwickelt sich der Wunsch, etwas für ihr Wohl zu unternehmen. Diese Dankbarkeit kann in die Überzeugung münden, daß dazu die Verwirklichung der eigenen spirituellen Möglichkeiten in der Buddhaschaft die beste Basis wäre. Allein schon das Anstreben einer solch heilsamen Geisteshaltung wirkt sich für einen selbst und andere auf vielen Ebenen sehr segensreich aus. Wer ein Ziel anstrebt, fragt sich gleichzeitig, wie er es erreichen kann. Die geeignete Methode, um die Buddhaschaft zu verwirklichen, ist die Verhaltensweise eines Bodhisattva, der stets aus der Motivation heraus handelt, einen optimalen Nutzen für die zahllosen Wesen bewirken zu wollen. Die Hauptübung des Bodhisattva besteht in den Sechs Vollkommenheiten: Geben, Ethik, Geduld, Tatkraft, Konzentration und Weisheit. Das Haupthindernis, das der Bodhisattva beseitigt, ist die Selbstsucht. Das Bodhisattva-Gelübe enthält Regeln, die die Selbstsucht eindämmen sollen.
Eigentlich verstößt jede egoistisch motivierte Handlung gegen die Disziplin eines Bodhisattva. Wenn wir das Gelübde ablegen, sind wir dadurch nicht automatisch echte Bodhisattvas, denn uns fehlt der Erleuchtungsgeist, der bei einem Bodhisattva spontan immer präsent ist. So kommt es bei uns immer wieder zu Verfehlungen gegen die Bodhisattva- Ethik. Selbst der große indische Meister Atisha sagte einmal, daß die Verfehlungen in Bezug auf das Bodhisattva- Gelübde bei ihm so häufig wären wie der Regen vom Himmel fällt. Er hat sich aber stets diese Übertretungen bewußt gemacht und sie bereinigt.
Entsprechend sollten wir jeden Tag das Gelübde neu nehmen, indem wir den folgenden Vers von Shāntideva dreimal vor unserem Hausaltar rezitieren: „Oh Gurus, Buddhas und Bodhisattvas, bitte schenkt mir Eure Aufmerksamkeit! So wie die früheren Sugatas den Erleuchtungsgeist entwickelt haben und der Reihe nach in der Schulung der Bodhisattvas verweilten, so werde auch ich, um den Nutzen der Lebewesen zu bewirken, den Erleuchtungsgeist entwickeln und die Schulungen der Bodhisattvas der Reihe nach ausüben.” Wir machen uns die Vorzüge dieser kostbaren und umfassenden Praxis bewußt. Wenn dann die Kraft des Mitgefühls unsere Selbstsucht allmählich überwiegt und unser Interesse an der Praxis sich stetig entwickelt, sind wir auf einem guten Weg. Wir sollten uns bewußt machen, daß nicht jeder persönliche Wunsch einen Fall von Selbstsucht darstellt. Selbstsucht ist das Verfolgen eigener Interessen unter Mißachtung der Wünsche anderer.
Eine Initiation, wie sie vom Dalai Lama erteilt wurde, kann ein wichtiger Impuls sein, dem Ziel der Buddhaschaft näher zu kommen. Bei diesem Ritual stellt der erfahrene geistige Lehrer uns Körper, Rede und Geist der Gottheit vor und führt in Meditationstechniken über den Buddha und seine göttliche Umgebung, das Mandala, ein. Dabei werden tiefe Eindrücke wie Samen im Geist der Initiierten hinterlassen – als Basis für das Erlangen der Zwei Körper des Buddha. Die Vaseninitiation bereitet die Erlangung des Dharmakāya, des geistigen Körpers des Buddha, vor und die Kroneninitiation die Erlangung des Rupakāya, des Formkörpers.
Die durch die Initiation geweckten Potentiale werden mit Hilfe des Bodhisattva-Gelübdes und regelmäßiger Meditationen und Rezitationen im Zusammenhang mit der Gottheit zur Reife gebracht. Besonders günstig ist es, für die eigene Praxis den vom Dalai Lama kommentierten Gebetstext zu verwenden. Darin ist die Meditation über die sogenannten Sechs Gottheiten enthalten. Hervorragend wäre es, eine Klausur über Avalokiteshvara zu machen, wie wir sie regelmäßig in unserem Meditationshaus Semkye Ling durchführen. In der Klausur enthält man sich unnötiger Ablenkungen und nähert sich durch die intensive Meditation und die Mantra-Rezitation dem Zustand der Gotttheit an. Sie können auch zu Hause meditieren und von Zeit zu Zeit dieser Praxis ein Wochenende widmen. Es liegt im Tibetischen Zentrum auch ein Kommentar zu dem Meditationstext vor.
So haben wir viele Möglichkeiten, auf der Grundlage des kostbaren Besuchs Seiner Heiligkeit unsere Praxis im Mahāyāna-Buddhismus zu vertiefen. Wenn wir beim Erhalt der Initiation während des Nachsprechens einiger Passagen dem tibetischen Wortlaut nicht folgen konnten, sollten wir uns keine Sorgen machen. Entscheidend ist die Überzeugung, daß wir das Gelübde bzw. die Initiation erhalten haben, nicht das buchstabengetreue Nachsprechen der Worte. Die unverzichtbare Grundlage für alle tantrische Praxis – das betonte der Dalai Lama immer wieder – ist natürlich das Studium und die Meditation über den Lamrim, den Stufenweg zur Erleuchtung. Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der Praxis.
Erneuern des Bodhisattva-Gelübdes
Wer das Bodhisattva-Gelübde einmal von einem Lehrer erhalten hat, kann es dann selbst – möglichst täglich morgens und abends – wieder erneuern. Nachdem man den Raum gesäubert und die Opfergaben auf dem Hausaltar dargebracht hat, macht man drei Verbeugungen und rezitiert in der Hocke sitzend mit den Händen in der Demutshaltung zunächst einen Text zur Reinigung wie etwa die „Allgemeine Bereinigung“ oder die Darbringung der Siebenteiligen Verehrung wie mit nachfolgendem Vers. Danach spricht man mit gefalteten Händen das Nehmen des Bodhisattva-Gelübdes. Abschließend folgen wieder drei Verbeugungen und danach setzt man sich in Meditationshaltung und beginnt mit seiner täglichen Praxis.
Siebenteilige Verehrung
„Alle Güter, die materiellen und vom Geist geschaffenen, opfere ich. Alle unheilsamen Handlungen und Übertretungen, die ich seit anfangslosen Zeiten begangen habe, bereue ich. An den Tugenden der höheren und gewöhnlichen Wesen erfreue ich mich. [Buddhas und Lamas], bitte dreht das Rad des Dharma zum Wohle der Lebewesen, indem ihr bis ans Ende des Daseinskreislaufs wohl verweilt. Meine Verdienste und die der anderen widme ich der vollendeten Erleuchtung.“
Nehmen des Bodhisattvagelübdes
„Oh Gurus, Buddhas und Bodhisattvas, bitte schenkt mir Eure Aufmerksamkeit! So wie die früheren Sugatas den Erleuchtungsgeist entwickelt haben und der Reihe nach in der Schulung der Bodhisattvas verweilten, so werde auch ich, um den Nutzen der Lebewesen zu bewirken, den Erleuchtungsgeist entwickeln und die Schulungen der Bodhisattvas der Reihe nach ausüben.“ (3x)
Abschließende Freude und Vorsatz der Achtsamkeit
„Nun hat mein Leben Frucht getragen: Ich habe das menschliche Dasein wohl erlangt; ich bin heute in der Familie der Buddhas geboren und zu einem Kind der Buddhas geworden.
Von nun an will ich in allem im Einklang mit dieser Familie handeln und mich so verhalten, daß ich diese edle, makellose Familie nicht beschmutze.“
Entnommen aus Geshe Thubten Ngawang: Die Regeln des Bodhisattva-Gelübdes. Hamburg, dharma edition, 1998.