Wie gehen Buddhisten mit dem Tod um?
Interview mit Geshe Tenpa Choephel von Christine Rackuff
Wie trauern Buddhisten, die wissen, dass jedes Lebewesen im Daseinskreislauf immer wieder Geburt und Tod erlebt? Was ist die beste Hilfe für Sterbende? Welche Möglichkeiten der Bestattung gibt es und was sind Reliquien? Geshe Tenpa Choephel beantwortet einfühlsam und vom Standpunkt seiner Tradition wichtige Fragen zum Thema Tod und Trauer.
Frage: Der Buddha lehrte vor 2500 Jahren, dass seit anfangsloser Zeit alle fühlenden Wesen durch Geburt und Tod gehen und es lange Zeit braucht, um die Befreiung aus diesem Kreislauf des Leidens zu finden. Obwohl wir das wissen, empfinden wir Tod und Verlust eines nahen Menschen als äußerst schmerzvolle Erfahrung. Wie gehen Buddhisten mit dieser Lebensphase um, im Wissen um die Vergänglichkeit einerseits, dennoch in Trauer und Schmerz andererseits.
Geshe-la: Es ist ganz natürlich, Trauer zu empfinden, auch als Buddhisten sollten wir uns nicht dagegen stellen. Dabei sollten wir soviel praktizieren wie möglich. Auch das Meditieren der Zwölf Glieder des Abhängigen Entstehens wird uns helfen, uns an Tod und Vergänglichkeit zu gewöhnen. Wenn wir in der Lage sind, so gut wie möglich zu praktizieren, werden wir mit der Zeit eine stabile Sichtweise erlangen, die uns davor schützt, hilflos unseren Gefühlen ausgeliefert zu sein. Im Zusammenleben mit den Menschen, die wir lieben, die uns nahe stehen, sollten wir liebevoll und mitfühlend sein und ihnen nur positiv gegenüberstehen. Dann haben wir uns später nichts vorzuwerfen und wissen, dass wir unser Bestes in diese Beziehung gegeben haben. Angesichts eines bevorstehenden Todes ist es sehr wichtig, dem Sterbenden eine möglichst friedvolle Umgebung zu schaffen, zu den Drei Juwelen zu beten und starke gute Wünsche auszusprechen für alle Wesen, die im Samsara gefangen sind.
Schüler und Dharmafreunde von Geshe Thubten Ngawang sollten voller Dankbarkeit denken: „Er war mein guter Lehrer, mein Wurzellama, mein treuer Begleiter“. Natürlich wird man auch Trauer empfinden, das ist normal. Aber wir sollten diese Trauer als Motor für etwas Konstruktives nehmen. Wir können uns an seinem Lebenswerk freuen und uns immer wieder daran erinnern, welche wertvollen Möglichkeiten er für seine Schüler geschaffen hat. Anstatt uns in Trauer zu verlieren, sollten wir in seinem Sinne Dharmapraxis üben und das, was wir von ihm gelernt haben, in Freude zum Wohle der anderen Wesen anwenden. Es gibt ein tibetisches Sprichwort: „Wenn es kein Leiden gibt, gibt es keinen Mut und keinen Fleiß“. Genau das sollten wir erinnern, auch dass wir die Leiden des Daseinskreislaufes immer wieder als Kraftquelle verwenden. Dann entwickeln wir eine möglichst reine Sichtweise, aus der positive, heilsame Handlungen entstehen können.
Frage: Liebe, Zuwendung und Achtsamkeit sind wichtige Dharmakräfte, die ganz besonders auch für die friedliche Begleitung eines Sterbenden gelten. Gibt es hierbei Unterschiede, z.B. für einen praktizierenden Buddhisten oder einen Laienschüler, der weniger fortgeschritten ist?
Geshe-la: Da gibt es natürlich Unterschiede. Wenn es sich z.B. um einen hoch verwirklichten Praktizierenden wie Geshe Thubten Ngawang handelt, ist es überhaupt nicht angebracht, dass man ihm sozusagen zwecks psychischer Stabilisierung geistige Hilfe zur Verfügung stellt. Obwohl sein Körper sehr krank war, konnte er seinen stabilen, friedlichen Geisteszustand aufrechterhalten. In einer solchen Situation ist es von großem Nutzen, dem Betroffenen alles, was sein Körper zur Linderung braucht, anzubieten: Wärme, eine gute Heizung, Decken, gutes Essen und Medizin. Jemand, der in seiner Praxis einen so hohen Geisteszustand erreicht hat, besitzt große Geduld im Ertragen von Leiden. Tsongkapa sagt, dass Leiden uns mehrere Arten von Geduld lehrt. Wer eine höhere Stufe in der Praxis erreicht hat, wird das Leiden freundlich annehmen, ohne geistig zu leiden.
Einem mehr weltlich orientierten Menschen, der nicht viel Gelegenheit zum Praktizieren hatte, aber doch Hingabe für den Dharma zeigt, kann man sehr wohl auf dem Sterbebett helfen. Das geschieht, indem wir in Liebe und Mitgefühl mit ihm über den Dharma reden, ohne ihn unter Druck zu setzen oder gar zu sagen‚ du musst aber, bevor du stirbst, noch dies oder jenes machen und so und so viele Mantras rezitieren. Wir sollten ihm Dharmathemen nahe bringen; sein Geist wird so daran gewöhnt, an den Dharma zu denken.
Man sollte vermeiden, mit einem sterbenden Menschen weltliche Gespräche zu führen. Er könnte zum Beispiel auch Belehrungen des Dalai Lama oder anderer hoher Lamas anhören, und wir könnten darüber mit ihm sprechen, wenn er dazu in der Lage ist.
Frage: Wenn er nicht mehr dem Gespräch folgen kann, wenn der Mensch im Koma liegt, oder wenn sich die Elemente bereits aufzulösen beginnen, welche Möglichkeiten des Nahebringens sind dann noch gegeben?
Geshe-la: Wenn jemand im Koma liegt, kann man kein Gespräch mehr mit ihm führen, weil er vielleicht nicht mehr hören kann; das wissen wir nicht so genau. Wir sollten ihm dennoch heilsame Worte, etwa die Zufluchtnahme ins Ohr flüstern. Wir können auch in seiner Gegenwart Manis (O mani padme hum) rezitieren; das Mantra der Grünen Tārā und des Medizinbuddhas sind sehr hilfreich. Wir können auch in seinem Beisein Gebete oder Rituale für ihn machen, zum Schutze für ihn und um ihn auf seinem Weg zu begleiten.
Frage: Gilt das für Mensch und Tier?
Geshe-la: Tiere verstehen aufgrund ihrer mangelnden Intelligenz nichts vom Dharma. Allerdings ist es hilfreich, sie vor ihrem Tode mit Mantras in Verbindung zu bringen. Selbst wenn sie dann das erste Mal ein Mantra hören, wird es einen Samen in ihren Geistesstrom legen, und sie werden später die Möglichkeit haben, sich in einer anderen Existenz daran zu erinnern. So heißt es in den Schriften, dass Buddhas Worte durch Gewohnheit gute Samen setzen und Früchte tragen werden. Seine Heiligkeit der Dalai Lama hatte in Frankreich nach einer Einweihung in Buddha Akshobhya gesagt, dass es gut sei, wenn ein Mensch gestorben ist, das Dhāranï, ein langes Mantra von Akshobhya, zu rezitieren und auf die Knochen des Verstorbenen zu hauchen. Das ist eine sehr wirkungsvolle Methode, den Verstorbenen auf einen guten Weg zu bringen.
Frage: In westlichen Ländern hat man als Hinterbliebener auf Grund der zurzeit geltenden Bestattungsgesetze wenig Einfluss. Man erhält in der Regel nach der Einäscherung nicht die Asche des Toten. Wie ist es in Tibet oder da wo Buddhisten leben? Werden dort diese Rituale weiterhin ausgeübt?
Geshe-la: Hier im Westen haben wir auf Grund der Gesetze nicht die Wahl. Wenn es nicht möglich ist, die Leiche eines Verstorbenen noch einige Tage zu Hause zu behalten und entsprechende Praxis zu machen, müssen wir das so hinnehmen. In Tibet gibt es alte buddhistische Sitten. Wenn der Verstorbene z.B. eine Infektionskrankheit hatte, war es üblich, seinen Leichnam zu vergraben. War das nicht so, wurde der Leichnam auf eine Bergspitze oder in ein einsames Tal gebracht und dort den Geiern überlassen. Beim Tode eines hohen Lamas wurde der Körper verbrannt. Das ist auch heute noch so. Aus den Knochenresten und anderen Teilen, die nach der Verbrennung übrig bleiben, werden kleine Figuren geformt oder sie werden als Reliquien in ein Stupa gelegt und dort von den Betenden verehrt. Heutzutage beginnt sich auch in Tibet der Brauch durchzusetzen, die Verstorbenen zu vergraben.
Frage: Darüber hinaus gibt es in allen Traditionslinien Regeln, über einen bestimmten Zeitraum hinweg den Geist des Verstorbenen mit Gebeten zu begleiten.
Geshe-la: Man setzt den Zeitraum von 49 Tagen nicht an, wenn es ein hoher Praktizierender war. Er wird auch in Sitzposition seinen Körper verlassen, mit übergeschlagenen Beinen, und solange in dieser Haltung gelassen, wie der Körper dies zulässt. Das kann eine Woche sein, zwei Wochen, aber keine 49 Tage. Es ist dann kein Fehler, wenn man diesen Körper vor Verstreichen der 49 Tage bestattet. Selten wird es möglich sein, einen Leichnam so lange aufzubewahren. In jedem Fall werden während der Zeit Sterberiten ausgeführt.
Ist ein wenig oder kaum praktizierender Laie verstorben, bleibt der Körper etwa drei Tage ungestört liegen, weil sich die Elemente in dieser Zeit auflösen. Auch das differiert zwischen einem und drei Tagen. Die Schriften sagen, dass nach drei Tagen die Trennung der Elemente vom Körper vollendet ist. Während dieser drei Tage, in denen sich die Elemente vom Körper trennen, gibt es starke Veränderungen für den Sterbenden. Sein Bewusstsein macht große innere Prozesse durch. Von außen können wir nur wenige Veränderungen wahrnehmen, z.B. dass Blut aus der Nase austritt, wenn sich die Elemente gelöst haben oder dass sich Darm und Blase entleeren. Dies zeigt den abgeschlossenen Trennungsprozess an.
Frage: Finden sich diese Zeichen ohne Unterscheidung zwischen einem hoch Verwirklichten und einem einfachen Praktizierenden oder gar nicht Praktizierenden?
Geshe-la: In der Tat kann es große Unterschiede geben. Einige Meister können einen so genannten Regenbogenkörper annehmen und nichts außer Haaren oder Fingernägeln zurücklassen. S.H. der Dalai Lama hat während einer Belehrung in Dharamsala von einem Nyingma- Kenpo gesprochen, der engen Kontakt zu Geshe Rabten hatte und zu Kyabsche Pabongka Rinpoche. Er hat nach seinem Tode nur Reste seines Haupthaares und einige Fingernägel hinterlassen. Das Bett auf dem er gestorben war, wies nichts Weiteres mehr auf.
Frage: Welchen Nutzen haben Phänomene dieser Art für die Nachwelt? Werden vom Meister Zähne, Nägel oder Haare zurückgelassen, um den Hinterbliebenen oder Dharma-Praktizierenden die Vergänglichkeit vor Augen zu führen? Und die Abhängigkeit allen Entstehens? Welche Bedeutung haben Reliquien in unserer heutigen Zeit?
Geshe-la: Man kann das Zurücklassen von Reliquien unter mehreren Aspekten sehen. Allgemein ist es ein Ergebnis sehr intensiver Meditiations- und Dharmapraxis. Das sollte für uns als Aufforderung verstanden werden, größtmögliche Hingabe, Respekt und Vertrauen in den Dharma zu entwickeln. Hat also jemand eine große Verwirklichung, hinterlässt er entsprechende Zeichen. Es kann sein, dass er dies, allgemein gesagt, zum Nutzen der Wesen tut.
Damit Reliquien nach der Verbrennung sichtbar werden können, muss die Verbrennung langsam geschehen und von entsprechenden Ritualen begleitet sein. Die Holzscheite sollen während einer längeren Zeremonie Stück um Stück in langsamer Folge angezündet werden. Geschieht das voller Vertrauen, sind manchmal Reliquien zu finden: Knochen, manchmal ganze Organe oder Ringsel (kleine pillenartige bunte Formen). Reliquien sind ein Mittel, uns an Karma, also Ursache und Wirkung, zu erinnern. Dass wir den Dharma besonders intensiv praktizieren, Stufe für Stufe zum Nutzen aller Wesen. Dann werden wir selbst auch den Nutzen daraus erhalten.
Frage: Immer wieder wird in den Texten betont, wie wichtig es ist, in einem ruhigen Geisteszustand zu sterben. Kann man noch im Sterben negatives Karma ansammeln, wenn man zum Beispiel in Furcht gerät oder in Anhaftung an das zu Ende gehende Leben?
Geshe-la: Alles im Dharma, von der Zufluchtnahme bis zur Befreiung, basiert auf der Grundlage von Ursache und Wirkung. Wenn wir sterben, können wir unseren Körper nicht mitnehmen. Das Einzige, was hinübergeht, sind unsere positiven und negativen Handlungen. Während unseres Lebens können wir uns an diese Zusammenhänge gewöhnen, damit wir sie im Zeitpunkt des Todes geistesgegenwärtig haben. Diese kostbare Existenz sollten wir nutzen, weil wir im Moment des Todes keine Freiheit mehr haben.
Auch im Tod sollten wir daran denken, Negatives aufzugeben und Positives zu tun. Im Moment des Sterbens tritt das Leiden geballt auf. Wenn wir da unvorbereitet hineingehen, werden wir kaum in der Lage sein, unseren Geist bewusst zu halten, sondern von großem Leiden überwältigt in Dunkelheit fallen. Hat ein Mensch eine stabile Dharmapraxis in seinem Leben ausgeführt, wird er im Moment des Todes über einen klareren Bewusstseinszustand verfügen als einer, der erst im Moment des Todes an den Dharma denkt.
Wir können uns jeden Tag fragen: „Habe ich heute gut praktiziert?“, und uns prüfen. Alle Heiligen sagen, dass wir unsere eigenen Rechnungsprüfer sind. Wir brauchen nicht erst den Tod, der uns prüft. Wir können selbst erkennen, ob wir unsere Praxis gut und mit Hingabe vollziehen oder nicht. Letztlich müssen wir uns unserer Selbstverantwortung bewusst sein. Der Buddha ist den Weg der Befreiung gegangen, um uns diesen Weg zu zeigen. Wenn unser Körper verwirkt ist, wenn wir ihn an samsarische Dinge verschwendet und nicht zur spirituellen Entwicklung genutzt haben, ist er unweigerlich verloren, und wir werden in Zukunft schwer eine neue Möglichkeit haben. Also erinnern wir uns in jeder Sekunde, Minute, Stunde, Heilsames zu tun, Mitgefühl zu entwickeln, liebevoll zu sein, zu meditieren, Praxis zu machen. Wir müssen es selbst tun, um voranzukommen. Nur so entwickeln wir uns weiter.
Aus dem Tibetischen übersetzt von Deniz Yildirim