Die Sakya-Tradition
Das Sakya-Kloster in der zentraltibetischen Provinz Tsang wurde von Khön Köntschok Gyalpo erbaut. Die Sakya-Tradition (Sa skya) des tibetischen Buddhismus leitet ihren Namen von diesem Kloster ab. Die zentrale Lehre der Sakya-Tradition ist die Lehre über "Pfade und ihre Früchte", welche auf die Tradition des Meisters Drogmi zurückgeht, eines einflußreichen Übersetzers und Lehrers, der in Indien studierte. Manjushri, dem Bodhisattva der Weisheit, wird in dieser Tradition eine große Bedeutung zugemessen; denn entsprechend der Überlieferung wird angenommen, daß sieben seiner Reinkarnationen in der Überlieferungslinie der Sakya erschienen sind.
Einer der interessantesten und historisch prägnantesten Aspekte der Sakya-Tradition ist die Tatsache, daß sie die erste unter allen Traditionen war, die weltliche und spirituelle Macht in sich vereinte. Innerhalb dieser säkularen und spirituellen Entwicklung der Sakya-Tradition war der Meister Kunga Gyaltsen (1182- 1251) von besonderer Bedeutung. Ihn verehrt man auch heute noch als den Meister Sakya Pandita. Er war es, der eine enge Verbindung mit der aufkommenden Macht der Mongolen knüpfte, die rückblickend als diplomatisch bezeichnet werden kann. Diese immer enger werdende Verbindung zwischen Sakya Pandita und den Mongolen-Herrschern war ein Hauptgrund dafür, daß Tibet während der großen Mongolen-Invasion vor Zerstörung bewahrt blieb. Es gibt eine Überlieferung, nach der Dschingis Khan und der Großlama von Sakya regelmäßig miteinander korrespondierten. Später wurde Sakya Pandita tatsächlich an den Hof des Mongolen-Prinzen Godan Khan eingeladen, wo er den Prinzen im Jahre 1244 von einer ernsthaften Krankheit heilte. Aufgrund der großen Weisheit und tiefen Würde dieses Großlama von Sakya wurde der Buddhismus als eine einflußreiche kulturelle Kraft in der Mongolei fest verankert.
Die säkulare Machtentfaltung der Sakya-Tradition setzte sich während der Zeit des Meisters Phagpa (1235-1280), eines Neffen von Sakya Pandita, weiter fort, als die Sakya-Lamas die weltliche Vorherrschaft über drei tibetische Distrikte zugesprochen bekamen. Diese Machtübertragung stärkte den Einfluß der Sakya-Lamas im weltlichen Bereich und brachte ihnen die politische Vorherrschaft über weite Gebiete Tibets, welche sie über neunzig Jahre hinweg behaupten konnten.
Genau wie sein Onkel Sakya Pandita war Phagpa ein großer buddhistischer Gelehrter und wurde deshalb an den Hof des obersten Mongolen-Prinzen Kublai Khan eingeladen. Dort wurde er gebeten, die administrative Gewalt über die von den Mongolen eroberten Territorien Chinas zu übernehmen. Phagpa nahm die Einladung an und bewegte sich selbstbewußt und mit höchster Würde am Hofe Kublai Khans und bestand sogar darauf, mit dem Herrscher auf dieselbe Stufe gestellt zu werden. Diese Angelegenheit wurde auf diplomatische Weise geregelt, so daß der Großlama in allen spirituellen und Tibet betreffenden Fragen die vorrangige Entscheidungsmacht erhielt, während der mongolische Herrscher in allen weltlichen Belangen höher gestellt war.
Der Großlama von Sakya übte großen Einfluß auf Kublai Khan, den obersten Herrscher über das mongolische Imperium, aus. Phagpa beeindruckte Kublai Khan und die Mongolen nicht nur durch seine Gelehrsamkeit, Weisheit und sein würdiges Verhalten, sondern entwickelte auch ein der mongolischen Sprache angepaßtes Alphabet. Am Ende wollte der mongolische Herrscher sogar ein Gesetz erlassen, welches zur Folge gehabt hätte, daß sich die Buddhisten in Tibet, in der Mongolei und in China der Sakya-Tradition des Buddhismus hätten anschließen müssen. Bezeichnenderweise überzeugte Phagpa den Herrscher jedoch, von seinem Vorhaben abzulassen, mit dem Argument, daß ein solches Gesetz den Prinzipien der Lehren des Buddha widerspräche, da jeder Buddhist das Recht habe, diejenige Form des Buddhismus anzunehmen, die seinem individuellen Charakter und seinen Fähigkeiten entspräche.