In Dharamsala ist Tibets Widerstand ungebrochen

Zuerst ist da dieser durchdringende Ton. Er zieht mit dem ersten Frühnebel durch die Gassen, schwebt über verlassene Dachterrassen, er dringt durch Tempel und Teestuben, durch Mauerritzen und Türspalte in jedes Schlafzimmer, jede schmuddelige Imbissbude und jeden vollgestopften Souvenirshop der Stadt.

Die buddhistischen Mönche beten summend, das Bergdorf Dharamsala erwacht. Und schon bald darauf, wenn die Sonne die Fichten grün färbt und die Bergspitzen orange, mischt sich ein erstes Hupen der Autos und Mopeds in den monotonen Gesang der Mönche.

Im Gästehaus "Pema Thang" klingelt das Telefon: Arbeitsbeginn für Mita Lama, Tochter einer Inderin und eines Briten, Anfang 30, verheiratet, gläubige Buddhistin. Sie ist eine muntere Frau mit hübschem Gesicht und warmen Augen, die immer gern redet. Seit ein paar Jahren managt sie die Rezeption.

Mita Lama schlägt das dicke Buch mit den Reservierungen auf und fährt mit dem Finger die Kolonnen entlang. "Ausgebucht, ausgebucht, ausgebucht."

Sie schüttelt immer wieder den Kopf, als könnte ihr Gesprächspartner sie sehen. Ein Bett in Dharamsala, ausgerechnet nächste Woche – das ist nahezu unmöglich. "Wie kann man nur glauben, dass es jetzt noch freie Zimmer gibt, ein paar Tage bevor Seine Heiligkeit, der Dalai Lama, kommt?"

Am Fuße des Himalaja

Das ist der Rhythmus von Dharamsala, genauer gesagt: der von Upper Dharamsala, dem höher gelegenen Teil der Stadt. Es ist ein beschaulicher Bergort am Fuße des Himalajas im Nordwesten Indiens.

Fünf Straßen und ein paar Häuser krallen sich auf 1800 Meter Höhe an den Hang. "Little Lhasa" wird Dharamsala auch genannt – nach der tibetischen Hauptstadt Lhasa, in der 1959 der antichinesische Aufstand niedergeschlagen wurde.

Zwischen den Fichten hängen bunte Gebetsfahnengirlanden, Straßenhändler verkaufen Buddha-Bilder, und in den Regalen der Buchläden stapeln sich die Schriften des Dalai Lama. Morgens, wenn der Singsang der Mönche einsetzt, schlurfen alte Frauen mit bunten Schürzen und langen Zöpfen die Straße zum Kloster hinunter.

Sie murmeln Mantras und lassen die Perlen der Gebetsketten durch ihre Finger gleiten. Jeden Tag umrunden sie das Kloster im Uhrzeigersinn. Die sogenannte Kora gehört zu den tibetischen Alltagsritualen.

Dieser ruhige Ort, wo die Straßenhändler an den Ständen Passanten nachsehen und die Taxifahrer in ihren Autos vor sich hin dösen, schwillt immer dann auf das Zigfache seiner Größe an, wenn ein fröhlicher alter Herr mit kleinen Augen hinter dicken Brillengläsern hierherkommt: der Dalai Lama.

Seine Heiligkeit ist oft auf Reisen

Seit seiner Flucht aus Tibet 1959 lebt der gegenwärtige 14. Dalai Lama, der Mönch Tendzin Gyatsho, geistliches Oberhaupt der Buddhisten, hier im Exil. "Meistens ist Seine Heiligkeit auf Reisen", sagt Mita Lama, "aber wenn er sich für eine religiöse Unterweisung in Dharamsala angekündigt hat, dreht die Stadt durch."

Dann reisen zu Tausenden seine Anhänger an, drängen sich buddhistische Mönche, europäische Sinnsucher und tibetische Flüchtlinge aus der ganzen Welt durch die schmalen Gassen, darunter auch ein paar verwirrte Inder, die eigentlich nur den Shiva-Tempel im Nachbardorf besuchen wollten.

Die Straßenhändler machen großartige Geschäfte, in den teuren Touristencafés sind alle Tische besetzt, und die Wirte in den Momo-Buden servieren die tibetischen Maultaschen im Akkord.

"Auch auf den Bänken in der Lobby übernachten dann Gäste", sagt Mita Lama. Die gläubige Buddhistin hat die letzte Vorlesung persönlich erlebt. Morgens um sechs Uhr kam sie ins Kloster. Da warteten vor den Sicherheitsschleusen schon an die 6000 Menschen. "Wie bei einem Popkonzert."

Sie ergatterte einen Platz, so groß wie ein DIN-A-4-Blatt, auf dem Steinboden im Innenhof. Den Dalai Lama sah sie nur auf Großbildschirmen. "Trotzdem war es toll. Er ist ein sehr kluger Mensch." Drei Tage währte der Ausnahmezustand. Danach war alles wie immer.

Dalai Lama im Namgyal-Kloster

Und das ist also sein Zuhause. Prunkvoll ist das Namgyal-Kloster nicht gerade: Weiß getünchte Wände, typisch tibetische Sprossenfenster – mehr sieht man von der Straße aus nicht. Rund 200 Mönche leben hier. Sie sind es, die sich jeden Morgen vor Sonnenaufgang versammeln und buddhistische Sutren in diesem einzigartigen Gesang rezitieren, der ganz Dharamsala einhüllt.

Mittags ist es auf dem Gelände angenehm leise. Kein Hupen, keine Musik, kein Baulärm. Ein Mönch huscht über den Innenhof, ein paar Touristen ziehen ihre Schuhe vor dem Kalachakra-Tempel mit den prächtigen Wandmandalas aus.

Eine Gruppe Pilger legt vor der drei Meter hohen Avalokiteswara-Statue im Tsuglagkhang-Tempel Opfergaben nieder: Äpfel, Trinkpäckchen und eine Packung Kekse gibt es für den Gott der Barmherzigkeit.

100.000 Flüchtlinge

Im Museum im Eingangsbereich erzählen Fotos von der Flucht des Dalai Lama und von den tibetischen Familien, die ihm folgten, von Kindern, die mit erfrorenen Fingern in indischen Auffanglagern ankamen, von abgebrannten Klöstern, zerstörten Dörfern und vertriebenen Mönchen – von mehr als 100.000 Flüchtlingen. Die Fotos erzählen vom Widerstand, von Menschen, die sich selbst verbrennen, von Menschen, die alles für ihre Heimat opfern würden.

Von Menschen wie Lukar Jam, 43, Aktivist, Ex-Häftling. Ein Mann mit wildem schwarzem Haar und ernstem Gesicht, den man nur sehr selten lächeln sieht. Fünf Jahre hat er als politischer Gefangener in chinesischer Haft verbracht. Wenn man ihn nach dieser Zeit fragt, weicht er aus. Sie hat ihm das Lächeln geraubt.

Mit Anfang 20 gelang ihm die Flucht nach Dharamsala. Er schloss sich der Organisation Gu-Chu-Sum an, die tibetischen Ex-Häftlingen mit einer Unterkunft, Essen und medizinischer Versorgung hilft.

Mit politischen Texten kämpft er vom Exil aus für die Unabhängigkeit seiner Heimat. Und selbst wenn er ein freies Tibet noch erleben würde – er würde nicht zurückkehren. "Das Tibet meiner Kindheit existiert nicht mehr", sagt er. "Ich habe die Hoffnung eigentlich schon aufgegeben, aber ich muss trotzdem weiterkämpfen, das ist wie ein innerer Zwang."

Neue Flüchtlinge erzählen ihm vom schleichenden Tod seiner Heimat. Sie erzählen von der gezielten Ansiedlung Hunderttausender Han-Chinesen, von klaffenden Bergbaugruben in der Steppe, von zerstörten Dörfern und verbotenen Ritualen.

"Free Tibet" an den Mauern

"Der Druck der Chinesen wächst – und damit auch die Wut der Tibeter", sagt Lukar Jam. "Wir sind bereit zum Kampf und irgendwann wird es dazu kommen." In Dharamsala scheint es, als sei der Widerstand gegen die chinesische Regierung ungebrochen.

An jeder Mauerecke klebt der Slogan "Free Tibet", in den Cafés gibt es Vorträge über die Geschichte des Widerstandes, und in den Souvenirshops werden Jutebeutel mit Tibet-Aufdrucken verkauft.

Die Stimmung ist angespannt in Dharamsala. Lukar Jam sagt: "Die Menschen fürchten das Ableben des Dalai Lama. Sie haben Angst vor der Phase der Unsicherheit, die dann folgen wird."

Der Dalai Lama ist 78 Jahre alt, und er ist das Gesicht des Widerstandes. In jedem tibetischen Haushalt in Dharamsala hängt mindestens ein Bild von ihm an der Wand, umkränzt von bunten Plastikblüten und angeleuchtet von Yakbutterlämpchen.

Kampf der Tibeter

Weltweit hat der Dalai Lama Aufmerksamkeit auf die Tibet-Frage gelenkt, ist bei Regierungschefs und Staatsoberhäuptern ein und aus gegangen, hat internationale Sympathie für den Kampf der Tibeter gewonnen. Und trotzdem hat bis heute keine Regierung die chinesische Provinz als unabhängigen Staat anerkannt.

Auf halbem Weg an der Straße nach Upper Dharamsala liegen die Gebäude der Regierung, mit der niemand spricht. Ein nahezu menschenleerer Komplex, wuchtige Häuser in traditionell tibetischer Bauweise, die fast ein wenig trotzig wirken. Als wollten sie ignorieren, dass man sie ignoriert.

Hier bewahren die Exil-Tibeter ihre wichtigsten Kulturgüter auf: In der "Library of Tibetan Works & Archives" sind alte tibetische Texte, Mandalas und Artefakte ausgestellt.

Das Men-Tsee-Khang-Institut kümmert sich um den Erhalt der tibetischen Medizin und Astrologie, und im Norbulingka-Institut stellen Flüchtlinge traditionelles Kunsthandwerk aus: Tangkha-Malerei, Holzfiguren und bestickte Kissen. Es sind die verzweifelten Versuche eines Volkes, in der Fremde seine Kultur zu bewahren.

Seine Heimat hat er nie gesehen, gesteht Tashi Dorji, Sohn tibetischer Flüchtlinge, Vater zweiter Kinder und Ticketverkäufer. "Aber ich würde sofort für Tibet kämpfen", sagt er. "Ein bisschen muss es so sein wie hier, haben meine Eltern immer gesagt."

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