Tages-Anzeiger (CH), 12.8.14

Er sei Hirte, habe nie eine Schule besucht und sei in einem Er sei Hirte, habe nie eine Schule besucht und sei in einem kleinen Dorf in Tibet aufgewachsen. Seit dem 12. Dezember 2010 wird der Mann laut eigenen Aussagen von der chinesischen Geheimpolizei verfolgt – doch das Bundesverwaltungsgericht glaubt ihm seine Geschichte nicht, wie aus einem jüngst publizierten Urteil hervorgeht.

Der Mann erklärte den Schweizer Behörden, er habe auf einer Weide zwei Mönche getroffen, die ihm Fotos von Dalai Lama und religiöse Texte ausgehändigt hätten. Nachdem sie die Bilder und Schriften gemeinsam zu einem Nonnenkloster gebracht hätten, seien die Mönche verhaftet worden und hätten der Geheimpolizei seinen Namen verraten. Noch am selben Tag sei er aus seinem Dorf geflüchtet. Ein halbes Jahr später erreicht er die Schweiz.

Sprachanalyse entlarvte den Mann

2012 hatte das Bundesamt für Migration sein Asylgesuch abgewiesen, das Bundesverwaltungsgericht hatte seine Beschwerde gegen den Entscheid zu prüfen. Dieses zweifelte an der Glaubwürdigkeit des Mannes. Er kannte weder die Namen der Mönche (die den seinen der Polizei verrieten), noch konnte er sagen, warum er das brisante Material zu einem Kloster brachte. Nicht erklären konnte er überdies, auf welcher Route er in die Schweiz gelangte. Zudem konnte der Mann, der nie eine Schule besucht haben soll, genügend gut schreiben, um dem Bundesamt für Migration seine Personalien aufzuschreiben.

Vor allem aber schien der Mann die Behörden über seine Herkunft angelogen zu haben. Eine Sprachanalyse soll gezeigt haben, dass der Tibeter nicht an dem Ort aufgewachsen war, den er angegeben hatte. Sein Dialekt deutete darauf hin, dass er zwar Tibeter ist, aber im Exil sozialisiert wurde, vermutlich in Indien oder Nepal. Die Richter schlossen daraus, dass der Mann seine wahre Herkunft verschleiere und damit seine Mitwirkungspflicht am Verfahren verletzte.

Bundesverwaltungsgericht kehrt Beweislast

Das Bundesverwaltungsgericht fällte nun einen Grundsatzentscheid, nach dem sich die folgenden Entscheide richten müssen. Demgemäss ist die Wegweisung zwar rechtens – eine Ausschaffung nach China allerdings nicht möglich. Zunächst hielt das Bundesverwaltungsgericht fest, dass «für alle Exil-Tibeterinnen und -Tibeter ein Vollzug nach China auszuschliessen ist, da ihnen dort gegebenenfalls eine Refoulement-Verletzung droht». Mit anderen Worten: Die Schweiz schickt keine Exil-Tibeter nach China, weil dort ihr Leben oder ihre Freiheit gefährdet ist. Dies stellt im Wesentlichen eine Bestätigung von bisherigen Urteilen dar.

Neu ist dagegen Folgendes: Bei Personen tibetischer Ethnie, die ihre wahre Herkunft verschleiern, sei künftig «vermutungsweise davon auszugehen, dass keine flüchtlings- oder wegweisungsbeachtlichen Gründe gegen eine Rückkehr an ihren bisherigen Aufenthaltsort bestehen». Wenn ein Tibeter also nicht belegen kann, dass er die chinesische Staatsbürgerschaft besitzt, wird automatisch davon ausgegangen, dass er in einem anderen Land ein Aufenthaltsrecht besitzt und nicht dort gefährdet ist. Das entspricht einer Umkehr der Beweislast, denn bisher mussten die Schweizer Behörden beweisen, dass ein Tibeter aus Indien oder Nepal kommt, wenn sie mit einem dieser Länder eine Regelung finden wollten.

«Ich sehe das als eine Verschärfung an», sagt der Präsident der Tibetergemeinschaft in der Schweiz, Lobsang Gangshontsang. Für Tibeter sei die Situation immer schwierig, egal, woher sie kommen. «Wenn sie aus Tibet kommen, sind sie gefährdet, sobald sie das Land verlassen. Aber auch in Nepal und Indien leben sie als Flüchtlinge und brauchen irgendwo auf dieser Welt ein Zuhause», sagt Gangshontsang.

Die neue Praxis vereinfacht insbesondere den Kampf gegen Missbrauch. Wie ausgeprägt dieser allerdings ist, ist unklar. Gangshontsang schliesst allerdings aus, dass Tibeter aus Nepal und Indien die Schweizer Behörden bewusst täuschen würden, um hier Asyl zu erhalten.

Vorläufig aufgenommen

Beim angeblichen Hirten aus Tibet führte der Bundesverwaltungsgerichtsentscheid dazu, dass sein Asylgesuch abgewiesen wurde, er aber als vorläufig Aufgenommener in der Schweiz bleiben kann. Er darf arbeiten, muss Steuern zahlen und kann nicht in sein Heimatland zurückkehren. Nach fünf Jahren hat er die Möglichkeit, über ein Härtefallgesuch eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten.

 

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