Verfassung der Tibeter im Exil
(mit Änderungen bis zum 7.8.1993)
(Deutsche Version, inoffizielle Übersetzung)
Einleitung
Unter der richtungweisenden Führung Seiner Heiligkeit des Dalai Lama, zur Einleitung des demokratischen Aufbaus, erstreben wir Tibeter im Exil, fest gegründet auf unserer einzigartigen kulturellen Tradition, der Einheit von geistlichem und weltlichem Staat und auf dem Grundsatz der Gewaltlosigkeit, für jeden Tibeter Gleichheit, Gerechtigkeit, politische, soziale und wirtschaftliche Freiheit und bemühen uns, das zukünftige Tibet bestehend aus den vollständigen Provinzen U‑Tsang, Do‑Toe und Do‑Mey als demokratischen, föderalistischen, unabhängigen und republikanischen Staat und als eine Friedenszone aufzubauen.
Insbesondere, um die Erreichung des rechtmässigen Zieles des tibetischen Volkes in einem Geiste der Solidarität und Einheit der Tibeter in Tibet und im Exil voranzutreiben und um grundlegende Richtlinien für einen sicheren demokratischen Aufbau festzulegen, im Einklang mit den moralischen und materiellen Bedürfnissen des tibetischen Volkes, hat die XI. tibetische Versammlung in ihrer Rolle als verfassungsgebende Versammlung diese Verfassung der Tibeter im Exil verkündet, am 2. Tage des 5. Monats des 2118. tibetischen Königsjahres, entsprechend dem 14. Juni 1991 n. Chr.
Vorwort
Seit 1253-54 n. Chr., als Tibet nach der mongolischen Besetzung die Unabhängigkeit zurückerlangte und die Sakyapa-Dynastie die Macht übernahm, dauert die rechtmässige tibetische Regierung bis heute an. Zu Beginn erstrebte die tibetische Regierung mit einem politischen und juristischen System, das denjenigen in anderen Ländern Asiens weit voraus war, die Verbesserung der Wohlfahrt ihrer Bürger.
Allmählich erzielten andere Länder grosse politische Fortschritte. Doch Tibet blieb isoliert und konnte deshalb sein politisches System den geänderten Bedingungen im Laufe der Zeit nicht anpassen. Seit seiner Kindheit war es deshalb Seiner Heiligkeit dem 14. Dalai Lama ein tief empfundenes Anliegen, die seiner Einsicht nach veraltete tibetische Staatsform zu einem modernen demokratischen System umzubilden und eine Regierung aus gewählten Volksvertretern einzuführen. Infolge der chinesischen Besetzung konnte er jedoch diesen Wunsch nicht verwirklichen.
Bald nach der Ankunft Seiner Heiligkeit des Dalai Lama und einer grossen Zahl seiner Gefolgsleute in Indien begann der Demokratisierungsprozess der Tibeter im Exil.
Am 2. September 1960 trat die erste gewählte Versammlung der tibetischen Volksabgeordneten ihr Amt an. Am 10. Oktober 1961 legte Seine Heiligkeit die Grundsätze der Verfassung des künftigen Tibet fest.
Kurz darauf kündigte er den vollständigen Entwurf der künftigen Verfassung an und leitete damit eine Beschleunigung des Demokratisierungsprozesses ein. Doch im grossen und ganzen konnten die Tibeter die demokratische Weltanschauung und Kultur nicht nach den Erwartungen Seiner Heiligkeit übernehmen, und so erfolgten praktische Änderungen in der Verwaltung nur zögerlich.
Andererseits war es nicht möglich, den Verfassungsentwurf im Exil in Kraft zu setzen. Deshalb wurde 1990 die 10. Versammlung der tibetischen Volksabgeordneten aufgelöst und eine tibetische Exilverfassung entworfen.
Der Verfassungsentwurf wurde der 11. Versammlung der tibetischen Volksabgeordneten am Tage ihrer Vereidigung übergeben, mit der Bitte, die Aufgabe einer verfassungsgebenden Versammlung zu übernehmen, zur Debatte und Annahme einer Verfassung der Tibeter im Exil. Daraufhin wurde der Entwurf von der Versammlung gründlich durchberaten und die jetzige Verfassung verabschiedet.
Sie enthält einen vollständigen demokratischen Aufbau mit Gewaltentrennung und ein Kontrollsystem der legislativen, exekutiven und halbrichterlichen Organe.
Kurz gesagt, der ganze politische Prozess und alle Institutionen sind jetzt der direkten Verantwortung des Volkes unterstellt, und die erstrangige Bedeutung der gesetzlichen Regelung steht nun fest.
Dies ist ein bedeutender Schritt vorwärts und eine wirkliche Revolution in unserer politischen Geschichte. Der Erfolg unseres Demokratisierungsprozesses hängt jedoch davon ab, inwieweit jeder Tibeter über die demokratischen Prinzipien im allgemeinen und über die Verfassung der Tibeter im Exil im besonderen informiert ist.
Ausserdem ist es wichtig, die Verfassung international zu veröffentlichen, damit unser demokratischer Prozess in weiterem Umfang bekannt wird. In diesem Zusammenhang hat die Tibetergemeinschaft in der Schweiz eine inoffizielle deutsche Übersetzung der Verfassung anfertigen lassen. Ich bin sicher, dass die Leser grossen Nutzen daraus ziehen werden.
Datum: 16. 3. 1995 S. Rinpoche
Vorsitzender
I N H A L T S V E R Z E I C H N I S
Kapitel I
GRUNDLEGENDE RICHTLINIEN
Artikel 1
Zuständigkeit
Artikel 2
Art der politischen Ordnung
Artikel 3
Grundsätze der tibetischen Verwaltung
Artikel 4
Anerkennung von Gesetzen
Artikel 6 2
Verzicht auf Gewalt und Gewaltanwendung
Artikel 7 2
Staatsbürger von Tibet
Artikel 8 2
Kapitel II
Grundrechte und Pflichten
Artikel 93
Gleichheit vor dem Gesetz
Religiöse Freiheit
Artikel 10 3
Stimm- und Wahlrecht
Artikel 11 3
Weitere Grundrechte und Freiheiten
Artikel 12 3
Bürgerpflichten
Artikel 13 4
Durchsetzung von Grundrechten und Pflichten
Artikel 14 4
Kapitel III
RICHTLINIEN DER TIBETISCHEN VERWALTUNG
Erreichung des rechtmässigen Zieles des tibetischen
Volkes; soziale Wohlfahrt der Flüchtlinge
Artikel 15 4
Soziale Wohlfahrt
Artikel 16 5
Erziehung und Kultur
Artikel 17 5
Gesundheitswesen
Artikel 18 7
Kapitel IV
Die Exekutive
Ausführende Gewalt
Artikel 19 7
Kashag und Haupt-Kalon
Artikel 20 8
Wahl der Kalons
Artikel 21 8
Amtszeit des Kashag
Artikel 22 9
Wahl des Haupt-Kalon
Artikel 23 9
Amtszeit des Haupt-Kalon
Artikel 24 9
Eidesstattliche Erklärung des Haupt-Kalon und der Kalons
Artikel 25 10
Gehälter des Haupt-Kalon und der Kalons
Artikel 26 10
Sitzungen des Kashag
Artikel 27 10
Sitzungen des Je-Lon
Artikel 28 10
Pflichten und Auflösung des Kashag
Artikel 29 10
Geschäftsführung der tibetischen Verwaltung
Artikel 30 11
Regentenrat
Artikel 31 11
Hauptregent
Artikel 32 12
Pflichten und Befugnisse des Regentenrates
Artikel 33 12
Auflösung des Regentenrates oder Absetzung einesRegenten
Artikel 34 13
Amtszeit und Gehalt des Regentenrates
Artikel 35 13
Kapitel V
ÜBER GESETZGEBENDE AUTORITÄT
Gesetzgebende Gewalt
Artikel 36 14
Zusammensetzung der tibetischen Versammlung
Artikel 37 14
Anforderungen an die Mitglieder der Versammlung
Artikel 38 14
Amtszeit der tibetischen Versammlung
Artikel 39 15
Sitzungen der tibetischen Versammlung
Artikel 40 15
Sondersitzungen
Artikel 41 15
Ständiges Komitee der tibetischen Versammlung
Artikel 42 15
Ansprachen Seiner Heiligkeit des Dalai Lama
an die tibetische Versammlung
Artikel 43 16
Teilnahmerecht der Kalons an Sitzungen der tibetischen Versammlung
Artikel 44 16
Vorsitzende der tibetischen Versammlung
Artikel 45 16
Sonderrechte der tibetischen Versammlung
Artikel 46 17
Eidesstattliche Erklärung der Mitglieder der tibetischen Versammlung
Artikel 47 17
Abstimmungen in der tibetischen Versammlung
Artikel 48 17
Quorum der tibetischen Versammlung
Artikel 49 17
Honorare und Arbeitszuschüsse der Mitglieder der tibetischen Versammlung
Artikel 50 18
Einbringen und Annahme von Gesetzentwürfen
Artikel 51 18
Jahresbudget der tibetischen Verwaltung
Artikel 52 18
Geschäftsordnung der tibetischen Versammlung
Artikel 53 19
Diskussionseinschränkungen
Artikel 54 19
Verkündung von Verordnungen
Artikel 55 19
Referendum
Artikel 56 20
Auflösung der tibetischen Versammlung undAbsetzung eines Mitglieds
Artikel 57 20
Verfahren der tibetischen Versammlung von der tibetischen Gerichtskommission nicht in Frage zu stellen
Artikel 58 20
Allgemeine Sonderversammlung
Artikel 59 21
Regionalkomitee Bod Rangwang Denpai Legul
Artikel 60 21
Büro des Generalsekretärs
Artikel 61 22
KAPITEL VI
ÜBER DAS GERICHTSWESEN
Höchste Gerichtskommission
Artikel 62 22
Präsident der höchsten Gerichtskommission
Artikel 63 22
Die Geschworenen
Artikel 64 23
Gehalt des Präsidenten der höchsten
Gerichtskommission
Artikel 65 23
Zuständigkeit der höchsten Gerichtskommission
Artikel 66 24
Geschäftsordnung und Gesetzeskodex der
höchsten Gerichtskommission
Artikel 67 24
Meinungsbildung mit Hilfe der höchsten
tibetischen Gerichtskommission
Artikel 68 24
Untere tibetische Gerichtskommission
Artikel 69 25
Büro der tibetischen Justizverwaltung
Artikel 70 25
Kapitel VII
Organisation der tibetischen Siedlungen
Organisation der tibetischen Siedlungen im Exil
Artikel 71 25
Tibetischer Gemeindeverwalter und sein
Stellvertreter in tibetischen Siedlungen
Artikel 72 25
Wahl des tibetischen Verwalters
Artikel 73 26
Ernennung des tibetischen Gemeindeverwalters und seines Stellvertreters
Artikel 74 26
Zurückbeorderung des Gemeindeverwalters und seines Stellvertreters
Artikel 75 27
Amtszeit der tibetischen Verwalter
Artikel 76 27
Pflichten des tibetischen Gemeindeverwalters und seines Stellvertreters
Artikel 77 27
Tibetische Gemeindeversammlung
Artikel 78 28
Mitgliederzahl und Dauer der Gemeindeversammlung
Artikel 79 28
Vorsitzende der Gemeindeversammlung
Artikel 80 28
Wahlverfahren
Artikel 81 29
Befugnisse der Gemeindeversammlung
Artikel 82 29
Abstimmungen in der Gemeindeversammlung
Artikel 83 29
Quorum der tibetischen Gemeindeversammlung
Artikel 84 29
Entschädigungen für die Mitglieder der
Gemeindeversammlung
Artikel 85 29
Jahresbudget der lokalen tibetischen Siedlungen
Artikel 86 29
Tagesordnungen der Gemeindeversammlung
Artikel 87 30
Teilnahmerecht des tibetischen Gemeindeverwalters und seines Stellvertreters
Artikel 88 30
Vorschlagsrecht in der Gemeindeversammlung
Artikel 89 30
Diskussionseinschränkungen
Artikel 90 30
Absetzung des tibetischen Verwalters und seines Stellvertreters
Artikel 91 31
Auflösung der Gemeindeversammlung und Absetzung eines Mitglieds
Artikel 92 31
Besitz der tibetischen Genossenschaften
Artikel 93 32
Örtliche tibetische Gerichtskommission
Artikel 94 32
Selbständig gewordene tibetische Gemeinden
Artikel 95 32
Kapitel VIII
ÜBER DAS WAHLVERFAHREN
Wahlkommission Funktionen des Präsidenten der tibetischen
Artikel 96 33
Wahlkommission
Artikel 97 33
Gehalt des Präsidenten der Wahlkommission
Artikel 98 33
Amtszeit des Präsidenten der Wahlkommission
Artikel 99 34
Kapitel IX
AUSWAHLVERFAHREN DES VERWALTUNGSDIENSTES
Tibetische Kommission für Verwaltungsdienst
Artikel 100 34
Zusammensetzung der tibetischen
Kommission für Verwaltungsdienst
Artikel 101 34
Pflichten und Befugnisse der Kommission für Verwaltungsdienst
Artikel 102 34
Verfahren der tibetischen Kommission für Verwaltungsdienst
Artikel 103 34
Gehalt des Präsidenten der tibetischen Auswahlkommission für Verwaltung
Artikel 104 35
Amtszeit des Präsidenten der tibetischen Auswahlkommission für Verwaltung
Artikel 105 35
Kapitel X
DURCHFÜHRUNG VON REVISIONEN
Tibetisches Revisionsbüro
Artikel 106 35
Zusammensetzung des Revisionsbüros
Artikel 107 35
Pflichten und Befugnisse des Revisionsbüros
Artikel 108 36
Gehalt des Präsidenten des Revisionsbüros
Artikel 109 36
Amtszeit des Präsidenten des Revisionsbüros
Artikel 110 36
Kapitel XI
VERFASSUnGSÄNDERUNGEN UND ÜBERGANGSBESTIMMUNGEN
Verfassungsänderungen
Artikel 111 37
Referendum
Artikel 112 37
Übergangsbestimmungen
Artikel 113 37
Neuorganisation der Infrastruktur
Artikel 114 37
Sprachliche Echtheit
Artikel 115 37
Übersetzung, Publikation und Druck:
TIBETERGEMEINSCHAFT IN DER SCHWEIZ
c/o Rigzin Dorjee WORPA
Bachtelstrasse 47
CH-8810 Horgen
Schweiz